13. Juni 2014

Brasilien 2014: 25 Spieltage. 25 Kulturtipps.

Vom Paradiesvogel zum Kammermusiker (2/25)

Begleitend zur WM präsentiert TheTitle zu jedem Spieltag einen brasilianischen Kulturtipp. Heute: Ney Matogrosso.

von Rudolf Amstutz
Ney Matogrosso 2013 Foto: Marcelo Faustini/Divulgação

Wie kein anderes Land – mit Ausnahme von Kuba – hat Brasilien die Entwicklung der populären Musik nachhaltig beeinflusst. Als Sammelbecken unzähliger Einflüsse und Kulturen, als Ort emotionaler Gratwanderungen hat Brasilien die Klänge dieser Erde verschmolzen, erneuert, in Frage gestellt, benutzt und weiter gegeben.

Heute scheint die Sinnfrage hinsichtlich des Einflusses brasilianischer Musik überflüssig. Billigste Klischees werden mit zeitgemässen Beats gefriergetrocknet die Hitparaden hochgeschossen. Brasilien als klingendes Standbild eines Ferienprospektes.

Doch dieses unentwegte Brainstorming der brasilianischen Szene hat immer wieder zu komplexer Musik geführt, deren Vielschichtigkeit unter den tanzbaren Rhythmen für oberflächliche Ohren verborgen bleibt. Ney Matogrosso hat sich diese Oberflächlichkeit zunutze gemacht, um das Publikum durch die entlegensten Winkel des klanglichen Dschungels zu geleiten.

Optisch ein Paradiesvogel, symbolisiert er als theatralische Bühnenfigur die Zweischneidigkeit der brasilianischen Seele. Die Texte sind durchdrungen von Saudade, dieser Gefühlsebene, die sich zwischen Melancholie und Lebensfreude als Grundhaltung eingenistet hat. Und musikalisch wandelt Matogrosso durch die weiten Felder traditioneller und populärer Elemente und spielt so virtuos mit scheinbar unvereinbaren Kontrasten.

Die Zerrissenheit der brasilianischen Seele lässt sich auch stilistisch orten – folkloristische Schattierungen verschmelzen mit zeitgemässen Trends, mit orientalischen Mustern und portugiesischer Schwermut. Was Brasilien einst gab, holt es sich seit der Entstehung der Popmusik wieder zurück. Matogrosso ist ein Meister dieser weltumspannenden Klaviatur, die am Ende nichts anderes symbolisiert, als ein farbenprächtiger Bilderbogen seines eigenen Landes.

1941 wurde er als Ney de Sousa Pereira im Hinterland Brasiliens geboren, genauer im Bundesstaat Mato Grosso do Sul, an der Grenze zu Paraguay und Bolivien. Mit 17 ging er zur Armee, bevor er in den 1960er Jahren als singender Hippie durch die Strassen Rio de Janeiros tingelte. 1971 traf er in São Paulo auf die Musiker João Ricardo und Gerson Conrad, die für ihr Bandprojekt noch einen Sänger suchten. Matogrossos Countertenorstimme, glasklar, hoch und zerbrechlich, veredelte die Musik von Secos & Molhados. Die Band bestand zwar nur ein Jahr, doch mit ihren beiden Alben löste sie in Brasilien eine Hysterie aus, die an die Beatles erinnerte. Das war 1973.

Matogrosso übernahm für seine Solokarriere die musikalische Philosophie der Band, die zwischen Prog.-Rock und archaischer Folklore, zwischen jaulenden Gitarren und psychedelischen Synthesizer-Klängen, zwischen Bambusflöten und Trommeln Klänge erzeugten und so ein Paradebeispiel waren für die brasilianische Verschmelzung von Tradition und Moderne. Mit seinen theatralischen Auftritten, seinen extravaganten Verkleidungen und der androgynen Haltung wurde Matogrosso oft mit David Bowie verglichen. Doch Matogrosso ist auch ein sorgfältig beobachtender Chronist des brasilianischen Alltags, der die Ernsthaftigkeit des Vortrags oft ironisch bricht und hinterfragt. Zudem ist er ein aussergewöhnlicher Sänger, dessen Engelsstimme noch heute unverkennbar ist. In den letzten Jahren hat er sich vom exzentrischen Darsteller zum leisen Kammermusiker gewandelt. Wie kein Zweiter verwaltet er das musikalische Erbe seiner Heimat, interpretiert mit Hingebung und Würde vergessene Lieder aus den 1920er Jahren, darunter fast vergessene Choros und Sambas. Ney Matogrosso mag zum stillen Maestro geworden sein, doch der schillernde Paradiesvogel aus dem Hinterland Brasiliens ist er geblieben.
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Empfohlenes Album: «Batuque» (Universal) – Ney Matogrosso interpretiert u.a. frühe Sambas und Choros.

Konzertaufzeichnung der «Batuque»-Tour 2002 »

Der Regisseur Joel Pizzini hat 2012 mit «Olho Nu» ein filmisches Porträt des Künstlers realisiert und sein Berufskollege Vincent Moon hat Matogrosso in seiner Serie «Petites Planètes» verewigt.

«Olho Nu» – Trailer »

«Ney Matogrosso» – Kurzfilm von Vincent Moon »

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