Brasilien 2014: 25 Spieltage. 25 Kulturtipps.
Vom Paradiesvogel zum Kammermusiker (2/25)
Begleitend zur WM präsentiert TheTitle zu jedem Spieltag einen brasilianischen Kulturtipp. Heute: Ney Matogrosso.
von Rudolf AmstutzWie kein anderes Land – mit Ausnahme von Kuba – hat Brasilien die Entwicklung der populären Musik nachhaltig beeinflusst. Als Sammelbecken unzähliger Einflüsse und Kulturen, als Ort emotionaler Gratwanderungen hat Brasilien die Klänge dieser Erde verschmolzen, erneuert, in Frage gestellt, benutzt und weiter gegeben.
Heute scheint die Sinnfrage
hinsichtlich des Einflusses brasilianischer Musik überflüssig.
Billigste Klischees werden mit zeitgemässen Beats gefriergetrocknet die
Hitparaden hochgeschossen. Brasilien als klingendes Standbild eines
Ferienprospektes.
Doch dieses unentwegte Brainstorming der
brasilianischen Szene hat immer wieder zu komplexer Musik geführt, deren
Vielschichtigkeit unter den tanzbaren Rhythmen für oberflächliche Ohren
verborgen bleibt. Ney Matogrosso hat sich diese Oberflächlichkeit
zunutze gemacht, um das Publikum durch die entlegensten Winkel des
klanglichen Dschungels zu geleiten.
Optisch ein Paradiesvogel,
symbolisiert er als theatralische Bühnenfigur die Zweischneidigkeit der
brasilianischen Seele. Die Texte sind durchdrungen von Saudade, dieser
Gefühlsebene, die sich zwischen Melancholie und Lebensfreude als
Grundhaltung eingenistet hat. Und musikalisch wandelt Matogrosso durch
die weiten Felder traditioneller und populärer Elemente und spielt so
virtuos mit scheinbar unvereinbaren Kontrasten.
Die Zerrissenheit
der brasilianischen Seele lässt sich auch stilistisch orten –
folkloristische Schattierungen verschmelzen mit zeitgemässen Trends, mit
orientalischen Mustern und portugiesischer Schwermut. Was Brasilien
einst gab, holt es sich seit der Entstehung der Popmusik wieder zurück.
Matogrosso ist ein Meister dieser weltumspannenden Klaviatur, die am
Ende nichts anderes symbolisiert, als ein farbenprächtiger Bilderbogen
seines eigenen Landes.
1941 wurde er als Ney de Sousa Pereira im
Hinterland Brasiliens geboren, genauer im Bundesstaat Mato Grosso do
Sul, an der Grenze zu Paraguay und Bolivien. Mit 17 ging er zur Armee,
bevor er in den 1960er Jahren als singender Hippie durch die Strassen
Rio de Janeiros tingelte. 1971 traf er in São Paulo auf die Musiker João
Ricardo und Gerson Conrad, die für ihr Bandprojekt noch einen Sänger
suchten. Matogrossos Countertenorstimme, glasklar, hoch und
zerbrechlich, veredelte die Musik von Secos & Molhados. Die Band
bestand zwar nur ein Jahr, doch mit ihren beiden Alben löste sie in
Brasilien eine Hysterie aus, die an die Beatles erinnerte. Das war 1973.
Matogrosso übernahm für seine Solokarriere die musikalische
Philosophie der Band, die zwischen Prog.-Rock und archaischer Folklore,
zwischen jaulenden Gitarren und psychedelischen Synthesizer-Klängen,
zwischen Bambusflöten und Trommeln Klänge erzeugten und so ein
Paradebeispiel waren für die brasilianische Verschmelzung von Tradition
und Moderne. Mit seinen theatralischen Auftritten, seinen extravaganten
Verkleidungen und der androgynen Haltung wurde Matogrosso oft mit David
Bowie verglichen. Doch Matogrosso ist auch ein sorgfältig beobachtender
Chronist des brasilianischen Alltags, der die Ernsthaftigkeit des
Vortrags oft ironisch bricht und hinterfragt. Zudem ist er ein
aussergewöhnlicher Sänger, dessen Engelsstimme noch heute unverkennbar
ist. In den letzten Jahren hat er sich vom exzentrischen Darsteller zum
leisen Kammermusiker gewandelt. Wie kein Zweiter verwaltet er das
musikalische Erbe seiner Heimat, interpretiert mit Hingebung und Würde
vergessene Lieder aus den 1920er Jahren, darunter fast vergessene Choros
und Sambas. Ney Matogrosso mag zum stillen Maestro geworden sein, doch
der schillernde Paradiesvogel aus dem Hinterland Brasiliens ist er
geblieben.
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Empfohlenes Album: «Batuque» (Universal) – Ney Matogrosso interpretiert u.a. frühe Sambas und Choros.
Konzertaufzeichnung der «Batuque»-Tour 2002 »
Der Regisseur Joel Pizzini hat 2012 mit «Olho Nu» ein filmisches Porträt des Künstlers realisiert und sein Berufskollege Vincent Moon hat Matogrosso in seiner Serie «Petites Planètes» verewigt.
«Ney Matogrosso» – Kurzfilm von Vincent Moon »
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