31. Oktober 2013

Lou Reed 1942–2013

Und am Ende weinte eine ganze Stadt

Er war ein Pionier der Rockmusik, ein begnadeter Lyriker, Ex-Junkie und Menschenverachter und ganz am Ende ein zärtlich Liebender: Lou Reed. Ein Nachruf.

von Rudolf Amstutz
Am Ende versöhnt: Lou Reed. Foto: © Warner Music

Und irgendwann begannen sie ihn doch noch zu lieben, die Menschen seiner Stadt. Er, der wie kein anderer – mit Ausnahme von Woody Allen vielleicht – die Personifizierung New Yorks war. Nicht auszudenken, hätten er und Laurie Anderson Ende der neunziger Jahre nicht zueinander gefunden. Sie, die glasklare Konzeptkünstlerin und er, der von Dämonen verfolgte, ruhelose Rockstar. Man hätte wohl damals bereits Nachrufe auf ihn verfassen müssen.

Dass ihn die wahre Liebe noch einmal so treffen könnte, dass konnte und durfte man damals nicht erwarten. Plötzlich war Lou Reed im Reinen mit sich und der Welt. Und er schaffte es plötzlich, die inneren Widersprüche zu vereinen und zu Kunst zu machen.  Gemeinsam mit Regisseur Robert Wilson realisierte er multimediale Rockopern, mit Schauspielern wie Willem Dafoe und Steve Buscemi, dem Sänger Antony Hegarty und dem Saxophonisten Ornette Coleman vertonte er die Gedichte Edgar Allen Poes und zuletzt setzte er Frank Wedekinds «Lulu» mit Hilfe der Band Metallica brachial um. Die Rockfans waren darob entsetzt, was ihn kränkte. «Lulu» war die logische Schliessung des Reedschen Kreises: purer Rock’n’Roll gepaart mit literarischer Qualität, etwas, das er während seiner ganzen Karriere angestrebt hatte.

Im Grunde wollte Reed immer ein Intellektueller sein, obwohl er in seinen frühen Bands den guten alten Rock’n’Roll à la Chuck Berry und die Doo-Wop Songs der fünfziger Jahre intonierte. Der Mann aus Brooklyn  floh damals vom gutbürgerlichen Elternhaus , weil ihn die Eltern aus Angst, er habe homoerotische Züge, mit Elektroschocks behandeln liessen. An der Universität von Syracuse fand er im Lyriker Delmore Schwartz seinen ersten Mentor. Durch ihn fand er zum Wort und seine Seele zur Sprache.

Als er den klassisch ausgebildeten Viola-Spieler John Cale traf, ahnte nur Andy Warhol, dass dies die Musikgeschichte nachhaltig erschüttern würde, und nahm die Band 1966 in seiner Factory auf. Gemeinsam mit Sterling Morrison, Moe Tucker und der deutschen Chanteuse Nico, dekonstruierten Reed und Cale in der Folge als The Velvet Underground die Rockmusik. Reed sang von Junkies («Heroin») und deren Dealer («I’m Waiting For My Man»), während die Gitarren im Feedback ertranken und Cales Viola schmerzerfüllt kreischte. Das Ganze klang, als ob sich Bo Diddley, La Monte Young und Albert Ayler zu einer perversen Orgie zusammengefunden hätten. Kein anderes Stück als das fast 18 Minuten dauernde «Sister Ray» steht stellvertretend für diesen klanglichen Urknall: Reed und Cale, zwei Alphatiere, die gemeinsam die musikalische Kernschmelze zelebrieren. Für den New Yorker Musikkritiker Rob Sheffield ist dies der hörbare Dreh- und Angelpunkt der Rockgeschichte, auf seinem iPod befinden sich nicht weniger als sieben Stunden «Sister Ray».

Wäre danach nichts mehr gekommen, Lou Reed wäre dennoch als einer der wichtigsten Protagonisten jener Zeit im Geschichtsbuch gelandet. 30'000 mal verkaufte sich «The Velvet Underground & Nico» zwischen 1967 und 1972. Vom Musiker Brian Eno stammt der berühmte Satz, dass alle 30'000 Käufer dieser Platte später eine Band gegründet hätten: Patti Smith, R.E.M., Joy Division, Nirvana – die Liste all jener, die sich darauf berufen ist ähnlich lang wie die Zahl Pi Stellen hinter dem Komma hat.

Der Nachteil einer Kernschmelze ist deren Radioaktivität: Reed feuerte John Cale nach zwei Alben und die beiden zelebrierten ihre Unversöhnlichkeit bis Ende der achtziger Jahre. «Songs For Drella», ihr 1990 gemeinsam komponiertes Requiem für den verstorbenen Warhol offenbarte einmal mehr  die synthetische Kraft der beiden: grossartige, berührende Musik bis zum letzten Ton.

Das Leben ohne Cale bedeutete für Reed auch, sich plötzlich selber im Spiegel betrachten zu müssen. Seine Solokarriere mutet an wie ein Ritt auf dem «Cyclone» auf Coney Island. Eine Achterbahnfahrt sondergleichen, ein stetes Taumeln zwischen Genialität und Peinlichkeit. Abgemagert, ausgemergelt, von Drogen und Alkohol zerfressen begann dieser unendliche «Walk On The Wild Side», wie sein berühmtestes Lied heisst. Die Platte dazu, «Transformer» von 1972, ist das Werk eines urbanen Chronisten, der wie ein Chamäleon den seelischen und sozialen Zustand seiner Heimatstadt reflektierte. Noch heute ist es unmöglich, durch New York zu wandern, und nicht an unzähligen Ecken an Lou Reed erinnert zu werden.

Der Big Apple war in den Siebzigern ein kalter Moloch, durchtränkt von Gewalt, die Strassen bevölkert von Junkies, Huren und Gangstern. Es war ein Ort, an dem sich die Liebe vor Angst einschloss und den Niederträchtigen die Avenues, Neighbourhoods und Parks überliess. Lou Reed vertonte diese Polaritäten wie kein anderer: in seinen besten Momenten versank er in endloser Traurigkeit («Berlin», 1973) oder outete sich als kompromissloser Lyriker der Strasse («Street Hassle»). Seine Live-Auftritte verkamen zur Verhöhnung des Publikums, derweil einige seiner Platten wie etwa «Sally Can’t Dance» (1974) den Hörer mit peinlichem Pop-Appeal zu ködern versuchten. Und als er 1975 dem Publikum das Doppelalbum «Metal Machine Music» um die Ohren warf, hatte er den Zorn der Öffentlichkeit auf sicher. Vier Seiten Lärm von elektronisch verfremdeten Gitarren. Unverblümter hat keiner zuvor und danach seine Abneigung gegen alles kundgetan. Der legendäre Musikkritiker Lester Bangs nannte es gerade auch wegen dieser vertonten Unverfrorenheit «das grösste Album aller Zeiten». Heute gilt das Werk als avantgardistischer Vorbote zum Industrial Rock.

Reflektion, Läuterung, dem eigenen Dämon von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, dann wird die vertonte Sühne des Schuldigen vielleicht auch von Aussenstehenden mitgetragen. Mit «The Blue Mask» (1982) bekannte sich ein drogenfreier Reed zu diesem Neuanfang. Seit damals hat Reed sich immer wieder mit der eigenen Vergangenheit und der seelischen Befindlichkeit auseinandergesetzt und grosse Kunst geschaffen: Auf «New York» (1989), «Magic & Loss» (1992) und «Ecstasy» (2000) hat er seine Widersprüchlichkeit, die seelischen Abgründe, die Aggression eines Grossstadttieres und die Zärtlichkeit eines Liebenden vertont. Auf «Ecstasy» hört man auch die Violine Laurie Andersons als zarte Partnerin seiner fiebrigen Gitarre. Es war die Zeit, in der sich seine Einstellung zum Leben auch für die Menschen seiner Stadt spürbar veränderte. Plötzlich schien er überall präsent: er war gerngesehener Gast in den Restaurants und Bistros des West Village, spazierte am Hudson River entlang, tauchte bei Vernissagen auf oder praktizierte Tai Chi im Park. Man konnte ihn gar lächeln sehen, diesen grantigen Unberechenbaren, den ehemaligen Junkie und Menschenverachter. Er wusste nur zu gut und machte dies für alle sichtbar: ohne Laurie wäre er dem Teufel nicht entronnen. Ohne Laurie, hätten ihm die Menschen nicht verziehen. Ihn lieben gelernt, ihn, der zu dieser Stadt gehört wie die Brooklyn Bridge und das Empire State Building.

Es hätte alles schön werden können, wäre da die Leber nicht gewesen. Sie hat ihm die Vergangenheit nicht verziehen. Letzten Sonntag, dem 27. Oktober 2013, starb er in vertrauter Zweisamkeit in den Armen seiner Retterin und mit der Einsicht, dass alles gut geworden war, denn am Ende weinte eine ganze Stadt…

#-#SMALL#-#Lesen Sie auch: Die besten Alben von Lou Reed

Webseite: www.loureed.com
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