14. M�rz 2012

Alex Rühle: «Ohne Netz»

Wenn der Blackberry pausenlos schnarrt

Ein halbes Jahr offline – ohne Internet und E-Mail? Der Journalist Alex Rühle hat es gewagt und ein erhellendes Entzugstagebuch geschrieben. Sein analoges Experiment zeigt, wie sehr das Netz unser Leben auf den Kopf stellt. Eine Pflichtlektüre für alle Internethasser und –junkies.

Von Claudio Habicht
Ein halbes Jahr ohne Netz durchgestanden: Alex Rühle. Foto: Marijan Murat, © Klett-Cotta

«1 ungelesene E-Mail», verkündet mein privater Mail-Account. Seit heute morgen früh (jetzt ist später Nachmittag) habe ich bereits 12 Mal das Passwort eingetippt, in nervöser Vorfreude dem Laden der Seite entgegengefiebert, Mails angeschaut, beantwortet, mich abgemeldet. Dann kurz die Newslage gecheckt, oh, die Unruhen in Ägypten eskalieren. Auf Google die Geschichte des Landes überflogen, dann auf Youtube abgedriftet. Musikvideos gekuckt. Ich leide, wie wohl die meisten, an zwanghaftem Internetkonsum. Einloggen, ausloggen. Einloggen, ausloggen; in der Freizeit wie am Arbeitsplatz – und selbstredend auch in den Ferien. Einfach den Stecker ziehen fällt schwer.

Wie sehr wir zu Internet-Junkies geworden sind, zeigt der deutsche Journalist Alex Rühle in einem unterhaltenden wie erfrischend witzigen Buch. In Ohne Netz. Mein halbes Jahr offline dokumentiert er seinen – für viele unvorstellbaren – Selbstversuch: 182 Tage lang verbannt er Internet und E-Mail aus seinem Leben und zwingt sich zu digitaler Enthaltsamkeit, und hat dabei nur zwei Mal einen Rückfall. Wie beim Fasten, das Seele und Körper läutern soll, verfolgt er ein hehres Ziel. «Ich hoffe, durch das halbe Jahr ein wenig Souveränität zurückzugewinnen. Dass ich weniger zwanghaft in meine Mails schaue.»

Rühle erzählt in seinem Entzugstagebuch, wie er in den letzten Jahren immer stärker der Sucht verfallen ist. Besonders schlimm wurde es, als er den externen Mail-Account freischalten liess und sich später einen Blackberry zulegte. Verbrachte er als Redakteur für die freien Themen im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung bereits einen Grossteil seiner Arbeitszeit im Netz mit dem Aufspüren von Themen, schaute er nun auch spätabends und an den Wochenenden «noch kurz» in seine Mails, zum Leidwesen seiner Frau und seinen Kindern. Zu Hause legte er den Blackberry (in den USA nicht ohne Grund Crackberry genannt) auf den Schuhschrank. So konnte er vor dem Schlafengehen auf dem Weg zum Klo noch seine «Tagesdosis» reinziehen, ohne dass es seine Frau merkte. Ohne das Smartphone ging nichts mehr: Als er dieses mal nicht in die Ferien mitnahm, schlich er sich unter Vorwänden im nächsten Dorf ins Internetcafé um seine Mails anzuschauen.

Rühle zeigt in seinem Buch klug auf, dass nicht das Netz an sich das Problem ist – obschon er das Gefühl hat, ohne die «digitale Newsbrühe» besser gelaunt zu sein und seine Freizeit intensiver zu geniessen – sondern die Beantwortung von Mails rund um die Uhr. Klingt nach Moralfinger. Doch Rühle ist alles andere als ein unverbesserlicher Internethasser oder Kulturpessimist, der sich die guten alten (analogen) Zeiten zurückwünscht. Im Gegenteil: Vor seinem Experiment surfte er täglich stundenlang im Netz, das für ihn «ein riesiges Versprechen» ist. Kurzum, er konnte sich das Leben ohne Internet nicht vorstellen, was er auch heute nach dem halben Jahr offline nicht kann.

Rühles Tagebuch ist gerade wegen dieser Ehrlichkeit so lesenswert. Zudem behauptet er nicht, dass seine Erfahrungen für alle gelten müssten. Wiederholt betont er, dass er mit seinem Entzugsexperiment herausfinden wollte, wie viel von seinem Unbehagen überhaupt mit dem Netz zu tun hat. Und wie viel letztlich mit ihm selber, seiner stetigen Langeweile, seinem stressigen Alltag als Journalist und zweifachen Familienvater. Er ist mit seiner Sucht nicht alleine, stellte er während seiner Fastenzeit mit Erleichterung fest: So knüpfte er – natürlich per Brief – Kontakt zu einem Häftling, der wegen Steuerhinterziehung und Betrug einsitzt. Schlimmer als das Gefängnis ist für diesen der Blackberry-Entzug. «Hätte ich hier drin Handy und Netz, es wäre für mich kaum mehr Strafvollzug», sagt er Rühle bei einem Besuch in der Haftanstalt. Oder er berichtet von der Freundin, deren Mann als freier Kameramann mehr am Surfen als am Leben ist und dabei den Alltag total vergisst: «beim Essen, beim Reden, wenn unsere Tochter was aus der Schule erzählt: Sobald das Ding schnarrt, wird alles andere für ihn uninteressanter Hintergrund», klagt sie.

Doch oftmals geht es gar nicht anders, das ist sich Rühle sehr wohl bewusst. Heutzutage wird verlangt, dass man 24 Stunden am Tag erreichbar ist, privat wie geschäftlich, Blackberry und iPhone machen es möglich. Dies bestätigt der Soziologe Hartmut Rosa, ein Experten in Sachen Beschleunigungstheorie, den Rühle bei der Arbeit an seinem Buch aufsuchte: Handy und Internet seien schlicht Krücken, die einem helfen, im Rennen zu bleiben, sagt Rosa; in Zeiten der permanenten Performanz würden alle nach Leistung per Zeit beurteilt, Bauarbeiter wie Ärzte, Fernfahrer wie Professoren.

Daran hat sich auch nach dem halben Jahr digitalen Fastens und viel Selbsterkenntnis für Rühle nichts geändert. Bis zu 70-mal pro Tag heisst es wieder: Sie haben eine neue Mail erhalten. Die alten Suchtmuster sind geblieben - Rühle ist ratlos. Auf den Rat seiner Frau, er solle nur ins Netz wenn er wirklich müsse, entgegnet er: «Der freie Wille ist bei uns Junkies ausgeleiert wie ein altes Gummiband.» Ganz ohne Nutzen ist seine Fastenzeit trotzdem nicht geblieben: Rühle hat sein Blackberry gegen ein altes Handy eingetauscht und sich zu Hause kein Netz mehr installiert (dafür geht er jetzt am Computer seiner Frau ins Netz).

Ein gescheiter Lebens-Ratgeber will dieses Buch nicht sein, dafür bleibt nach der Lektüre das wohlige Gefühl zurück, bei jemandem Verständnis für seine eigenen digitalen Zwänge gefunden zu haben.

#-#IMG2#-##-#SMALL#-#Alex Rühle. Ohne Netz. Mein halbes Jahr offline. Klett-Cotta. Fester Umschlag.

€ 17.95 / CHF 27.50.

Leseprobe auf der Verlagshomepage »#-#SMALL#-#

 

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