2. M�rz 2012

wiedergehört: Serge Gainsbourg «Histoire de Melody Nelson» (1971)

…und nach ihm war nichts mehr, wie es einmal war

Rauchpause: Serge Gainsbourg im heimsichen Studio. Foto: © Universal

Frankreich, das nie müde wird, seine kulturellen Errungenschaften zu betonen, hatte lange Zeit mit einem der brillantesten und schillernsten Künstler des 20. Jahrhunderts seine liebe Mühe. Serge Gainsbourg starb am 2. März 1991, und das Land, seine Kritiker und selbsternannten kulturellen Richter realisierten erst im Verlust des Mannes den künstlerischen Reichtum seiner Hinterlassenschaft.

Lange Zeit galt Serge Gainsbourg im eigenen Land als Nestbeschmutzer und Frauenheld, als kettenrauchender Trunkenbold, der mit Obszönitäten nicht geizte. Seine künstlerischen Partner oder auch sein Freund und Biograph Gilles Verlant wurden nicht müde, die Zerrissenheit dieses Komponisten zu betonen. Gainsbourg, der sich Zeit seines Lebens hässlich fand und zu Depressionen neigte, legte sich das Alter ego Gainsbarre zu: «Dr. Jekyll und Mr. Hyde» nannte er denn auch eines seiner Chansons.

Diese Zerrissenheit führte zu einem der aussergewöhnlichsten Werke der französischen Musikgeschichte. Manu Dibango nannte ihn «einen grossen Architekten des Wortes». Der Rapper MC Solaar bezeichnet ihn als grössten Einfluss. Gainsbourg begann als Chansonnier, doch in der Folge erfand er sich in immer kürzeren Abständen neu. Er vertonte die Pop-Art in den Sechzigern («Comic Strip»), variierte immer wieder klassische Themen von Chopin bis Schubert, kreierte eine Reggae-Version der «Marseillaise» und experimentierte kurz vor seinem Tod mit Rappern aus New York.

Die Wortgewalt zwischen Romantik und Provokation, die Chansons zwischen Kunst und Kitsch, den sentimentalen Gainsbourg wie den hemmungslosen Gainsbarre lassen sich seit ein paar Jahren wieder entdecken. Sämtliche Alben zwischen 1955 und 1987 – viele davon lange vergriffen – sind nun wieder greifbar, in restaurierter Klangqualität und in Originalcovers. 

Dass Gainsbourg stets mehr war, als bloss der Schöpfer von «Je t’aime...moi non plus», diesem skandalumwitterten Duett mit Muse und Ehefrau Jane Birkin, ist mittlerweile allen klar. Und dennoch lohnt es sich an einem Meilenstein seiner Diskographie noch einmal aufzuzeigen, wie revolutionär der Mann war: «Histoire de Melody Nelson» ist nun zum 40-Jahr Jubiläum neu erschienen, ergänzt mit sämtlichen Studio-Sessions sowie einem Dokumentarfilm über die Entstehung und Wichtigkeit dieses bahnbrechenden Albums. Ob als Vinyl, CD/DVD-Set oder als üppiges Collector's Set (siehe Abbildung) – ein erneutes Reinhören in dieses Konzeptalbum kann man nur empfehlen.

#-#IMG2#-#Nach Gainsbourg war in der französischen Musik nichts mehr so, wie es einmal war. Heute bezeichnen sich sämtliche Protagonisten der neuen französischen Szene von Air bis Benjamin Biolay als Kinder Gainsbourgs. Und das hat auch und vor allem mit dem Album «Histoire de Melody Nelson» von 1971 zu tun. Auf nur 28 Minuten wird hier das französische Chanson völlig neu eingekleidet. Spoken Word, eine wild improvisierende Gitarre auf schwarzem funkigen Grund, dazu ausladende Streicherarrangements schmelzen zu einer sich jeder Schublade entziehenden Klangkulisse zusammen. Das ist grosses Kino fürs Ohr. Und in der Tat lassen sich in Stücken wie etwa dem finalen «Cargo Culte» beeindruckend viele Verbindungen herstellen: da mischt sich das Chanson mit psychedelischen Versatzstücken, dem Fusion-Ansatz eines Miles Davis und der Vertracktheit des progressiv ausgestalteten Rock. DJs wie David Holmes, TripHop-Pioniere wie Massive Attack oder Portishead, Jazzer wie John Zorn und die Rockfraktion von Beck bis Sonic Youth nennen ihn heute gerade wegen dieses Albums als einen ihrer wichtigsten Einflüsse. Die zeitgenössische elektronische Musikszene hat ihm deswegen mit dem Album «ElectronicAGAINSBOURG» ein spätes Denkmal gesetzt. Auf «Monsieur Gainsbourg Revisited» sorgte die internationale Rockfraktion für eine musikalische Hommage. Und auf «Radical Jewish Culture: Serge Gainsbourg» die Avantgarde-Fraktion der New Yorker Downtown-Szene. Deshalb ist es mehr als gerecht, dass diese Platte, die für so vieles Auslöser war und ist, nun mit einer opulenten Neuauflage geehrt wird.

Rudolf Amstutz

#-#IMG3#-##-#SMALL#-#Serge Gainsbourg. Histoire de Melody Nelson (Universal).

Neu erschienen als:

Doppel-CD plus DVD (CD1: Originalalbum. CD2: Sessions. DVD: Dokumentarfilm «L'histoire de Melody Nelson» plus 5.1. Mix)

Doppel-Vinyl (wie CD ohne DVD)

Super Deluxe Edition (enthält zusätzlich ein Buch und die Doppel-Vinyl-Ausgabe)

Film documentaire sur «L'histoire de Melody Nelson» Trailer »

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