7. Dezember 2017

«On Body and Soul» – Interview mit Ildikó Enyedi und Alexandra Borbély

«Lyrik ist wie Dynamit!»

Über den Traum finden zwei verwundete Seelen zueinander: Der ungarische Film «On Body and Soul» bringt die menschliche Existenz anhand einer subtil erzählten Liebesgeschichte auf kunstvolle Weise auf den visuellen Punkt. Ein Gespräch über ein ganz grosses Meisterstück mit den zwei Hauptprotagonistinnen: mit der ungarischen Regisseurin Ildikó Enyedi und ihrer Hauptdarstellerin Alexandra Borbély.

Interview: Rudolf Amstutz
Vereint im Traum: Géza Morcsányi als Endre und Alexandra Borbély als Maria in Ildikó Enyedis «On Body and Soul». Bild: © filmcoopi

Dort, wo die Kühe ein letztes Mal zur Sonne hochblicken, bevor sie angsterfüllt zur Schlachtbank schreiten: dort, wo das Tier industriell und im Akkord zu Fleisch verarbeitet wird – genau dort erzählt Regisseurin Ildikó Enyedi eine zauberhafte Liebesgeschichte. Inmitten eines ungarischen Schlachthofes, zwischen Stempeluhr, Chauvinismus und der Tristesse einer graumelierten Kantine treffen in «On Body and Soul» zwei Menschen aufeinander, die vordergründig nichts, aber tief im Innern alles miteinander zu tun haben. Maria, die neue Qualitätskontrolleurin, und Endre, der Betriebsleiter, sind beide auf ihre Art verwundete Tiere. Sie leidet unter Berührungsängsten und hat sich im eigenen Körper eingeschlossen; er hat mit Beziehungen abgeschlossen und verrichtet wortkarg seine tägliche Pflicht. Was sie nicht wissen: die Nächte verbringen sie im selben Traum. Immer und immer wieder.

Ildikó Enyedi, die einst mit «Az én XX. századom» (1989, «Mein 20. Jahrhundert») die Goldene Palme in Cannes gewann, gelingt mit «On Body and Soul» nach langer Kinoabstinenz ein triumphales Comeback, das zu Recht mit dem Goldenen Bären der Berlinale 2017 ausgezeichnet wurde. Dem Hirschpaar, das sich in der Traumwelt im Wald langsam findet, stellt Enyedi die graue Welt der Realität gegenüber, in der jeder eine Rolle zu spielen hat, selbst dann, wenn er dafür nicht geschaffen ist. Alexandra Borbély, die in Ungarn auf Theaterbühnen oft starke, selbstbewusste und extrovertierte Frauen spielt, gelingt mit der Darstellung von Maria ein äusserst subtiles Porträt eines Menschen, der dem Alltag gerade ihrer Verwundbarkeit wegen mit stoischer Strenge begegnet. Das reduktive Spiel wird glänzend erwidert von Géza Morcsányi, der Endre mit sprödem Charme und fast trotziger Zurückhaltung ausstattet.

«On Body and Soul» ist ein Film, in dem jedes einzelne Bild bis ins feinste Detail sorgfältig herausgearbeitet ist. Die Geschichte, in der zwei Menschen die magische Realität mit der realen Magie vertauschen, um den Weg (zurück) ins Leben zu finden, ist ohne Wenn und Aber pure Poesie auf Leinwand. Oder anders formuliert: Ganz hohe Kunst!

Das Interview mit Regisseurin Ildikó Enyedi und Hauptdarstellerin Alexandra Borbély fand am 2. Oktober 2017 im Rahmen des Zurich Film Festivals statt:

Ildikó Enyedi, zwischen Ihrem letzten abendfüllenden Spielfilm «Simon Mágus» und «On Body And Soul» liegen 18 Jahre. Weshalb so eine lange Pause?

Ildikó Enyedi: Ich hatte im Jahr 2000 zwei Drehbücher und wäre bereit gewesen, diese Projekte zu realisieren, aber dann klappte es nicht – es kam einfach nicht zustande. Das kann jedem Filmemacher passieren. Aber über eine so lange Zeit keinen Film zu machen – das ist wirklich sehr hart. Ab 2012 arbeitete ich dann für HBO Europe. Obwohl ich zuerst Angst hatte, für das Fernsehen zu arbeiten, erwies sich dies letztlich als sehr erfüllend.

Sie realisierten für HBO eine vielgelobte europäische Variante der Serie «In Treatment». Darin geht es um Psychotherapie. Kam Ihnen während dieser Zeit die Idee für «On Body And Soul»?

Enyedi: Nein. Ich schrieb das Skript dazu vor zehn Jahren und wir begannen damals auch schon mit der Arbeit am Film, doch dann kollabierte das ungarische Filmfinanzierungssystem. Drei Jahre lang war es unmöglich, in Ungarn Filme zu realisieren.

In der Hauptrolle brilliert Alexandra Borbély in der Rolle von Maria. War sie von Anfang für diese Rolle vorgesehen?

Enyedi: Nein, überhaupt nicht (lacht). Im Gegenteil. Aber vielleicht kannst Du, Alexandra, die Geschichte erzählen.

Alexandra Borbély: Ildikó schlug mir zuerst die Rolle der Psychologin im Film vor.

Enyedi: Diese hatte ich nämlich explizit für Alexandra geschrieben. Die Psychologin im Film ist ja eine extrovertierte, sexuell sehr aufgeladene Frau.

Borbély: Während ich also beim Casting für die Rolle der Psychologin war, waren auch die Darstellerinnen, die sich für die Rolle von Maria bewarben, anwesend. Irgendwann schüttelte Ildikó den Kopf und sagte zu mir: «Weshalb versuchst nicht du dich mal an der Maria?» Das war eine grosse Herausforderung für mich, weil die Rolle eine ganz andere war als jene, die mir ursprünglich zugedacht war. Zudem unterscheidet sich Maria auch völlig von mir selber.

Wie haben Sie es denn geschafft, sich in diese Rolle einzuarbeiten?

Borbély: Das Skript von Ildikó beschreibt Marias Charakter aussergewöhnlich detailliert. Nach dem Casting jedoch, schrieb mir Ildikó eine unglaublich lange E-Mail mit all den Dingen, die ich hätte besser machen können. So meinte sie etwa, dass meine Augen ein grosses Problem darstellen würden.

Weshalb?

Borbély: Nun, sie würden eine zu starke Sexualität ausdrücken. Das möge zwar auf einer Theaterbühne sinnvoll sein, aber nicht im Film. Zuerst machte mich dieser Kommentar ziemlich wütend. Ich dachte mir: Wie kann das sein, dass meine Augen ein Problem sein sollen? (lacht). Dann allerdings ging ich vor den Badezimmerspiegel und schaute mir tief in die Augen. Solange – bis es mir gelang, einen kindlicheren Blick aufzusetzen.

Enyedi: Alexandra gelang etwas, dass all den anderen Schauspielerinnen nicht gelang: Eine Mischung aus kindlicher Unschuld und gleichzeitiger Strenge. Maria hat eine kraftvolle Präsenz, weil sie ihre Arbeit äusserst ernst nimmt. Doch neben dieser Kraft besitzt sie eben auch eine grosse Verletzlichkeit. Um dies umzusetzen, drang Alexandra tief hinein in Marias Kopf.  

Maria ist schüchtern und hat Berührungsängste. Man hat lesen können, dass sehr vieles aus Ihrem eigenen Leben stammt. 

Enyedi: Früher war ich Maria nicht unähnlich. Nur:  Alexandra konnte sich davon nichts kaufen. Sie musste in ihrem eigenen Innern nach Marias Eigenschaften suchen, um sich glaubwürdig in sie verwandeln zu können. 

Borbély: Bei der äusseren Erscheinung experimentierten wir aber wieder gemeinsam. Wir fragten uns Dinge wie: Wie bewegt sie sich im Raum? Wie ist ihr Gang? Welche Kleider trägt sie? 

Enyedi: Was letztlich in der Frage kulminierte, welche Schuhe sie trägt. 

Borbély: Privat bevorzuge ich Turnschuhe oder dann gleich High Heels. 

Enyedi: Beides davon ging nicht, weil diese Art von Schuhen eine resolute Haltung repräsentieren.

Borbély: Ich glaube, wir probierten sämtliche existierenden Absatzgrössen durch. (lacht)

Enyedi: Am Ende fanden wir aber jenen Schuh, der im Schritt ausdrückt, dass die Person keine klare Haltung hat, dass sie verschlossen ist. Und es war wirklich ausserordentlich für mich zu beobachten, wie Alexandra sich damit noch mehr in Maria verwandelte.

Für Endre haben Sie sich mit Géza Morcsányi einen Mann ausgesucht, der zuvor noch nie als Schauspieler tätig war. Morcsányi kennt man in Ungarn «nur» als bekannten Verleger von Literatur.

Enyedi: Ich kenne jeden ungarischen Schauspieler und ich wusste, dass keiner von ihnen in der Lage sein würde, Endre glaubhaft darzustellen. Ich wusste also bereits zu Beginn, dass ich einen Amateur finden musste. Ich wollte jemanden, der eine Präsenz hat. Charisma. Ein Gesicht, das bereits viel erzählt. Einen Sinn für Humor, aber auch eine gewisse Heiligkeit in der Ausstrahlung – so dass man sich als Zuschauer für ihn interessiert und mehr über ihn wissen möchte. Ja, geradezu den Drang verspürt, diesen Mann verstehen, ihn entdecken zu wollen. 

Beide Darsteller erzählen dem Zuschauer durch ihre Präsenz bereits sehr viel über sich. Die reduktive Darstellung verstärkt dieses Erzählen zusätzlich.

Enyedi: Es ist interessant, dass beide den selben Effekt erzielen, obwohl die Herangehensweise so unterschiedlich war. Géza versuchte ich von den Dreharbeiten soweit fernzuhalten, dass er sich selber bleibt. Ich wollte, dass er sich in den ihm ausgesetzten Situationen wohlfühlte. Alexandra dagegen musste jede Szene neu erschaffen. Ich wollte die Momente, in denen beide bei sich zu Hause sitzen und fern sehen, so gestalten, dass sie ohne Worte eine Geschichte über diese beiden erzählen. Es ging um Informationen für den Betrachter, die man unmöglich mit  geschriebenen Dialogen hätte transportieren können. 

Borbély: Ist Ihnen etwas bei Marias Haar aufgefallen?

Ich weiss nicht…

Borbély: Das mag daran liegen, dass nur ganz kleine, aber bewusste Veränderungen vorgenommen wurden. 

Enyedi: Egal ob morgens oder abends. Egal, ob es regnet oder nicht. Marias Frisur ist eine visuelle Umsetzung ihres seelischen Zustandes und völlig losgelöst von äusserlichen Bedingungen. 

Auch die Beleuchtung ist sehr interessant. Es scheint, dass die Traumsequenzen eine natürlichere Farbe besitzen als die gezeigte Realität.

Enyedi: Das ist in der Tat so gewollt. Beim Beleuchten muss man aber extrem vorsichtig sein. Verfremdet man nämlich die Realität allzu stark ins Unrealistische, wirkt das Ganze plötzlich wie ein Puppentheater. Man kann das in den Filmen von Aki Kaurismäki oder Roy Anderson beobachten. Die Personen werden bei ihnen bewusst zu Symbolen, aber dabei handelt es sich um eine völlig andere Filmsprache, als die von mir Beabsichtigte. Wir versuchten die kalte, minimalistische Welt von Maria mit kleinsten Veränderungen so ins Licht zu rücken, damit das Bild zu einem zusätzlichen Statement wird. Wenn ich so spreche, komme ich nicht umhin, die aussergewöhnliche Teamleistung meiner Crew zu loben. Jeder war sich stets völlig über die Bedeutung jeder einzelnen Szene im Klaren. 

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Es ist interessant, dass Sie für die Traumsequenz ein Hirschpaar im Wald gewählt haben. Auf der einen Seite sind dies starke und stolze Tiere, die in völliger Freiheit leben. Auf der anderen Seite könnten sie jederzeit von einem wilden Tier oder einem Jäger getötet werden.

Enyedi: Ich wollte die Schönheit und den Reichtum eines Lebens zeigen, das in vollen Zügen gelebt wird. Aber dazu gehören auch Schmerz, Verlust und Gefahr. Alles Dinge, die auch Teil unseres Lebens sind und die wir akzeptieren sollten.

Der Film spielt in Ungarn in einem Schlachthof. Verbirgt sich dahinter auch ein politisches Statement?

Enyedi: Nein. In meiner Jugend, in den 1980er Jahren, hatte ich eine sehr enge Beziehung zur ungarischen Widerstandsbewegung. Alle meine Freunde waren Teil von ihr. Ich habe mich damals nicht engagiert und tue es auch heute nicht. Obwohl «On Body And Soul» kein politischer Film ist, geht es darin doch um grundlegende Dinge: Habe keine Angst, dein Leben voll zu leben! Wenn dir dies gelingt, dann kann auch dein Geist nicht vernebelt werden. Indirekt hat der Film diese Botschaft, aber ich versuche den Leuten nicht aufzuzwingen, was sie tun und denken sollen. Ich wünsche mir einfach, dass jeder voll und ganz präsent ist in seinem eigenen Leben. Dann ist er auch fähig, wertvolle und richtige Entscheidungen zu treffen. Etwas, das heute leider immer seltener zu beobachten ist – auf der ganzen Welt, nicht nur in Europa. 

Ich habe nach dem politischen Faktor gefragt, weil zurzeit an vielen Orten der Welt die demokratischen Strukturen erschüttert werden. Und vielleicht suchen die Menschen ja auch Antworten auf die Probleme dieser Welt in einer Liebesgeschichte.

Enyedi: Die Grundlage einer jeden Demokratie ist eine Gemeinschaft von Menschen, in der jeder einzeln für sich – basierend auf den vorhandenen Informationen – eine Wahl trifft. Wenn aber die richtigen Informationen fehlen, wird die Wahl verfälscht. Das Resultat einer verfälschten Wahl führt letztlich dazu, dass die Demokratie keine mehr ist. 

Also doch: in einer gänzlich indirekten Art, trägt dieser Film zur Aufklärung bei.

Enyedi:(zögert etwas) Ja, das tut er. (lacht)

Viele flüchten sich ja in eine Traumwelt, weil ihnen die Realität unerträglich scheint. Doch im Film geschieht das umgekehrte: die Protagonisten tauchen aus ihrem Traum auf und schreiten in die Realität.

Enyedi: Der Film zeigt aber auch, dass dahinter ein Lernprozess steht, der auch schmerzlich sein kann. Erst dann kann man wieder hinaustreten ans Tageslicht.

In einer Szene hört sich Maria einen Song an und der entpuppt sich als Kulminationspunkt. Den ganzen Film über denkt man sich: Weshalb spricht Maria nicht über ihre Gefühle? Und dann hört sie sich «What He Wrote» von Laura Marling an und dieses Lied wird zur Stimme Marias und zur akustischen Umsetzung ihres seelischen Zustandes. Für den Betrachter ein unglaublicher emotionaler Moment, bei dem man die existenzielle Essenz fast schon physisch spüren kann.

Borbély: (lächelt) Wow! So habe ich dies noch nie gehört… (schaut zu Enyedi)

Enyedi: Schaut (streckt den Arm aus) – ich habe Hühnerhaut! 

Erzählen Sie mehr über die Wahl dieses Songs.

Enyedi: Das Schlimme war, dass wir zuerst die Erlaubnis nicht erhielten, den Song zu nutzen. Und für eine lange Zeit weigerte ich mich, diese Verweigerung anzuerkennen. Ich unternahm nicht einmal den Versuch, eine Alternative zu finden. (lacht) Die Lyrik von Laura Marling und ihre Herangehensweise an die musikalische Umsetzung ähnelt in gewisser Weise dem Verhalten Marias. Es ist sehr selten, dass Verletzlichkeit und Stärke gleichzeitig zum Ausdruck kommen. Ich habe mir unzählige Singer/Songwriterinnen angehört, aber am Ende brachte nur dieses eine Lied die enorme Sensibilität und ungemeine Kraft gleichzeitig auf den Punkt. Ich höre Laura Marling schon seit ihren Anfängen und ihre Musik und ihre Lyrik faszinieren mich immer wieder aufs Neue.

Der Film basiert auf einem Gedicht der ungarischen Dichterin Ágnes Nemes Nagy: «Das Herz, eine flackernde Flamme aus Glut / das Herz, in mächtigen Wolken aus Schnee / doch innen, während Flocken versengen im Flug / glühn endlose Flammen einer brennenden Stadt.» Nun haben sie den Film zum Gedicht gemacht.

Enyedi: Ja! (strahlt) Es ist, als hätte die ganze Crew gemeinsam an einem Gedicht gearbeitet. Einfach unglaublich! Viele denken, Gedichte sind verträumt, weich, emotional. Für mich ist Lyrik die strikteste Ausdrucksform, die es gibt. Lyrik ist wie Dynamit! Da ist kein Wort zu viel und keines zu wenig. Deshalb ist Lyrik ein gutes Training für alle, die kreativ arbeiten, weil Gedichte eine völlige Freiheit und eine totale Kontrolle zur selben Zeit verlangen. Und genau dies versuchten wir bei «On Body And Soul» umzusetzen.

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#-#SMALL#-#«On Body And Soul». Ungarn 2017. 116 Minuten. Regie und Drehbuch: Ildikó Enyedi. Kamera: Máté Herbai. Musik: Ádám Balázs.

Mit: Alexandra Borbély (Maria), Géza Morcsányi (Endre), Réka Tenki (Klára), Zoltán Schneider (Jeno), Ervin Nagy (Sándor), Itala Békés (Zsóka, Die Putzfrau), Tamás Jordán (Marias Therapeut), Éva Bata (Jenos Frau), Pál Mácsai (Detektiv)

Trailer »

Laura Marling: «What He Wrote» (unterlegt mit Filmstills) »#-#SMALL#-#

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