2. November 2009

Hugo Pratt: «Corto Maltese»

Kapitän ohne Schiff

Der italienische Comicschöpfer Hugo Pratt (1927-1995) liess seine Galionsfigur Corto Maltese Abenteuer in aller Welt erleben. Durch die Geschichten wurden oft auch kulturelle Zusammenhänge aufgedeckt und erhellt.

Von Hans Keller

(Dieser Beitrag erschien erstmals in: TheTitle Nr. 28 / 2.11.2009)

Hugo Pratt hat ein einziges Werk in Prosa verfasst: die rund 130 Seiten des zum grössten Teil autobiografisch eingefärbten Bandes Aspettando Corto (1971). Hier erfährt man unter anderem, dass der 1927 geborene Pratt als Sohn eines italienischen Faschisten einen kurzen, aber wichtigen Teil seiner Jugend in Afrika, vor allem in Abessinien verbrachte. Dort probte er die persönliche Rebellion gegen den Faschismus, indem er sich vorwiegend mit Eingeborenen herumtrieb und dem Rassismus des Vaters zum Trotz deren Sprache lernte. Die sogenannte Exotik wurde für Pratt zur Selbstverständlichkeit, das Sicheinfühlen in fremde Kulturen später zu einem Hauptanliegen des vagabundierenden Universalisten. Es sollte den Zeichner und Szenaristen dereinst befähigen, seine Geschichten ungezwungen und ohne aufgesetzte Gebärde sowohl zwischen Palmen auf Südseeinseln als auch im Schnee und Eis Sibiriens anzusiedeln.

Nach dem Krieg sucht der junge Schwerenöter die Extremerfahrung der Fremdenlegion, wird aber aus verschiedenen Gründen abgewiesen. Hugo Pratt tobt sich trotzdem aus, sowohl im Leben als auch zunehmend mit dem immer und überall griffbereiten Zeichenstift. Erfundenes verquickt er mit Tatsachen und Erlebtem. Pratt wird Comic-Zeichner, zunächst in der Tradition eines Milton Caniff arbeitend, später, immer lockerer zeichnend, zu sich selber findend. Da ihm ein exzessiver Lebensstil nicht genügt, müssen Geschichten her, die allen nicht sofort zu realisierenden Sehnsüchten eine Plattform bieten.

Gelegentlich hält der junge Pratt Phantasien für real: seine diversen, im berauschenden Glauben, fliegen zu können, unternommenen Fensterstürze hat er unbeschadet überlebt. Ein wilder Kerl.

Einfach verrückt

Abenteuergeschichten wie Jungleman zeichnend und Abenteuer zwischen Italien, Argentinien und London erlebend, kreierte Pratt Ende der 1960er-Jahre seine Galionsfigur Corto Maltese, ein optisches und ideologisches Alter ego. Den Helden steckt er in eine Seemannsuniform, schickt ihn im schneidigen Dress rund um die Welt, lässt ihn von Abenteuer zu Abenteuer segeln, schwimmen, sich durchkämpfen, während die ironisch-zynische Art des Helden allem Uniformierten die Ordentlichkeit kappt. Corto, cool sinnierend unter der Mütze hervoräugend, sagt von sich selbst: «Ich glaube, es ist besser für mich, ohne Geschichte zu leben.» Aber auch: «Vielleicht bin ich ganz einfach verrückt, das letzte Exemplar einer ausgestorbenen Spezies, die noch an Grossmut, an Heldenmut glaubte.» Ausgestorben auch deshalb, weil Corto Maltese-Abenteuer nur in der Vorkriegszeit spielen können; die Nachkriegszeit mit ihrem Tempo und der touristischen Erschliessung auch des letzten Winkels der Erde lässt weitschweifige, pittoreske Epen in der Südsee, in Brasilien oder in Samarkand kaum mehr zu. Ausgestorben dürften auch Delinquenten, Piraten und Mörder wie Cortos ewiger Gegenspieler Rasputin sein, an Schlitzohrigkeit dem «Kapitän ohne Schiff» ebenbürtig, aber im Gegensatz zu diesem von skrupelloser Bösartigkeit: «Ich habe beschlossen, mir alles zu erlauben.»

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Ebenfalls von gestern ist der versoffene Professor Steiner, der alles über Voodoo, den untergegangenen Kontinent Mu und die Kultur der Eingeborenen jener Insel weiss, auf der man gerade auf Schatzsuche ist. Bedroht von sowohl japanischen als auch von deutschen Kanonenbooten geraten diese unfreiwillig zwischen die Fronten des 1. Weltkriegs. Der Träumer Pratt ersinnt verwickelte Abenteuer, angesiedelt in einer Zeit, als man offensichtlich noch durch eine mutige Tat, eine Entscheidung oder gar bloss durch ein Wort das Schicksal nach Wunsch zurechtbiegen konnte.

Kulturvermittler Corto

Corto Maltese erwies sich durch seine Abenteuer, die er rund um die Welt erlebte, auch stets als fiktiver Kulturvermittler. Als Corto Maltese schlüpfte er ab Oktober 1983 für rund zehn Jahre auch in ein gleichnamiges Monatsmagazin, das vom italienischen Verlag Milano Libri herausgegeben wurde. Als Chefredakteurin fungierte Fulvia Serra, die sich durch Hugo Pratt beraten liess. Das Konzept beinhaltete Comics – vorab eben Corto Maltese-Geschichten, aber auch schon von Anfang an und später zunehmend Stories anderer Zeichner und Zeichnerinnen – sowie ethnologische und kulturelle Hintergrund-Artikel samt geografischen Karten. Die Essays hatten meist einen direkten Bezug zu den integrierten Comics. Ein solcher kultureller Zusammenhang lässt sich exemplarisch anhand der 28-seitigen, vierfarbigen Corto Maltese-Story L’uomo del sertão aufzeigen, die im April 1988 im Corto Maltese veröffentlicht wurde.

Es geht sowohl im Comic als auch im vorangestellten historischen Essay um die brasilianischen Cangaçeiros. Dabei handelt es sich um Banditen und Gangster, die sich im Nordosten Brasiliens schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts zu Banden zusammenschlossen. Die Entstehung der Cangaço verläuft fast parallel zur Einschleppung afrikanischer Sklaven durch die Portugiesen, die Salvador da Bahia zur ersten Hauptstadt Brasiliens erkoren hatten. Die Sklaven wurden als Landarbeiter und Mineure im späteren Teilstaat Minas Gerais eingesetzt. Nicht selten gelang es ganzen Sklaven-Gruppen, ins Hinterland zu entfliehen, worauf man ihnen sozial höher stehende Mulatten, Mestizen oder aber auch orientalische Einwanderer als Killer hinterher jagte. Diese Kopfgeldjäger machten sich dann oft selbstständig, schlossen sich zu Banden zusammen und überlebten durch Morden und Brandschatzen: der Cangaçeiro-Mythos war geboren. Als erster legendärer Cangaçeiro geht Ende des 18. Jahrhunderts der Mestize Tiradentes (Zahnzieher, Zahnarzt) in die Geschichte ein. Nach ihm machten für fast 150 Jahre zahlreiche Gangs Brasiliens nordöstliches Hinterland und seine unwirtlichen Sertãos unsicher.

Sackbrutal und hochmusikalisch

Für den Höhe- und Endpunkt der Cangaço sorgte Virgolino Ferreira da Silva, berühmt und berüchtigt geworden unter dem Namen Lampião. Lampião, 1897 in Vila Bela im Teilstaat Pernambuco geboren, geriet durch eine blutige Familienfehde auf die schiefe Bahn, was ihm neben dem Knast nur noch das Abtauchen in die Berufsdelinquenz als Option offenliess.

Rund 30 Jahre lang trieb Lampião, der die Doolin/Dalton-Gang und Billy The Kid wie Waisenknaben aussehen liess, mit einer Bande von wechselnder Grösse im brasilianischen Nordosten sein Unwesen. Weder die oft korrupte Polizei noch Fallschirmjäger des brasilianischen Militärs konnten Lampiãos clevere Cangaçeiros zur Strecke bringen.

Erst 1938 geriet die Bande in Angicos an der Grenze zwischen den Staaten Sergipe und Alagoas in einen Hinterhalt, den viele Cangaçeiros inklusive Lampião und seine Geliebte Bonita Maria nicht überlebten. 

Über Lampião, seinen Charakter und seine Motivation lässt sich endlos philosophieren. Auf der pragmatischen Seite blieb ihm nach der Familienfehde zunächst keine andere Wahl, als das Abdriften ins Gangstertum. Die Wertung, er sei dabei zum Robin Hood geworden, kann allerdings nicht aufrecht erhalten werden, handelte Lampião doch oft irrational. An Geld mangelte es der Bande nie, da dieses durch Erpressungen und Geiselnahmen stets reichlich in die Taschen der Cangaçeiros floss. Lampião konnte so brutal wie generös, so blutrünstig wie charmant sein, und er war ein exzellenter Musiker und Tänzer. Es fehlte auch nicht an Versuchen, ihn für politische Ziele einzuspannen, was allerdings nie wirklich klappte. Dafür galt Lampião als ausgesprochen religiös und es war mit Padre Cicero lange Zeit ein katholischer Landpriester, der grossen Einfluss auf sein Verhalten hatte. Was Lampião nicht davon abhielt, seine Opfer gelegentlich im Zorn zu häuten.

Lampiãos schillernder Charakter lässt sich in kein Schema, in keine Kategorie pressen. Clever und schlau, lebten er und seine Bande mit den Jahren jedoch zunehmend in einer irrealen Welt, in der es ausser Dauer-Delinquenz keine wie auch immer geartete Perspektive gab und aus der kein Entrinnen möglich war. Eine Welt, in die Pratts Corto Maltese perfekt passt. Ergo kommt der Kapitän sowohl im Band Im Zeichen des Steinbocks (1970), der teilweise in Brasilien spielt, als eben auch in der hier behandelten Story L’uomo del sertão mit Cangaçeiros in Berührung. Diese trugen übrigens stets eine einschlägige «Uniform»: einen verzierten Napoleonhut, bestickte Westen, Lederhosen mit Patronengurt, Stiefel. Im Verlaufe der Handlung erscheint auch Corisco, das mit Abstand brutalste Mitglied von Lampiãos Bande. Corisco, ein Säufer, hatte die Tabula rasa von Angicos überlebt und führte anschliessend den Rest der Bande. 1940 verlor er infolge einer Schusswunde einen Arm und wurde noch im gleichen Jahr zur Strecke gebracht. Das Zeitalter der Cangaço war vorbei. In Nordostbrasilien gab es nach der zunehmenden Erschliessung des Hinterlandes durch (Auto)Strassen keinen Platz und kaum mehr Rückzugsmöglichkeiten für abenteuerliche Cangaçeiros.

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Pratts Kurzgeschichte L’uomo del sertão beschäftigt sich in einer fiktiven Apotheose mit den Folgen der Vernichtung von Lampiãos Bande. Corto Maltese spielt einen mysteriösen Cangaçeiro, der in eine ebenso mysteriöse Liebesbeziehung mit einer jungen Frau verwickelt ist. Hier besonders eindrücklich und deutlich: Cortos Augen sind Hugo Pratts Augen, die einen – ist man dem Zeichner jemals persönlich begegnet – stets leicht unheimlich zu durchleuchten schienen. Corto begegnet in der Story dem Gespenst des bereits zur Strecke gebrachten Corisco, der von einem verrückten Cangaçeiro namens Sabino bei der Polizei verraten worden ist. Sabino vergleicht sich mit Judas, der zwar Jesus ans Messer geliefert, aber ihn erst dadurch richtig berühmt gemacht habe. Alle Cangaçeiros werden, so Sabinos Glauben, durch den Tod vereint sich im Jenseits und im unendlichen Frieden wiederfinden.

Musik nach Banditenart

L’uomo del sertão gehört zum Schönsten und Gelungensten, was Hugo Pratt je geschaffen hat. Der Zeichner hält sich meist streng an eine Aufteilung der Seite in sechs quadratnahe oder gelegentlich rechteckige Panels. Die Zeichnungen sind von grosser Lockerheit, weit und breit keine kleinlichen Schraffuren oder dergleichen auszumachen. Aparte Einfärbung sorgt für Sertão-Atmosphäre. 

Wie sehr ein Corto Maltese-Abenteuer wie L’uomo del sertão kulturell erhellend in die Gegenwart herüberblitzen kann, lässt sich an einem an sich uralten, jedoch seit einigen Jahren höchst aktuellen brasilianischen Musiktrend demonstrieren: dem Forró. Es ist noch nicht allzu lange her, da erklommen in Brasilien jeweils ein paar «Cangaçeiros» mit trotzig quer aufgesetzten Napoleon-Hüten die Bühnen des Landes. Der Oberlump äugte grinsend unter seinem ockerfarbenen Chapéu hervor ins Publikum, hängte sich die Sanfona – ein Akkordeon – um und legte mit flinken Fingern los: Luiz «Reï do Baião» Gonzaga (1912-1989) und seine Band spielten zum Forró auf. Gonzaga gilt bis heute als die wichtigste Integrationsfigur des Stils, er trug die Form in den Süden nach Rio und São Paulo und machte sie im ganzen Land berühmt. Gonzagas Outfit sollte an die Cangaçeiros und an Lampião erinnern. Denn der Killer war auch Musiker und somit Kulturbotschafter: Lampião trug wesentlich zur Verbreitung des Forró bei. Die erfolgreichen Raubzüge wurden von der Bande jeweils mit fröhlichen Festen gefeiert.

Witzig die Herkunft des Begriffs Forró. Als Ende des 19. Jahrhunderts eine unter Beteiligung der Engländer durch Pernambuco gebaute Eisenbahnstrecke eingeweiht wurde, stand über dem Tor zum Festgelände «For all», woraus später «Forró» wurde.

Forró wird in seiner Urform bis heute von einem Akkordeon, der Zabumba-Trommel und einem Triangel vorgetragen. Das Tempo kann von gemächlich bis sehr schnell sein, die Melodik swingt meist lüpfig daher und trieft gleichzeitig vor Romantik, charakteristisch für das Akkordeonspiel ist oft ein kurzatmig rhythmisches Hecheln. Später kamen sowohl Gitarren als auch mehr Perkussion zum Instrumentarium. Moderne Pop-Forró- Gruppen wie die angesagten Banda Calypso und Banda Calcinha Preta besitzen Big Band-Format sowie Show-Tänzerinnen und -Tänzer. Der Sound wird zwar oft zu Hochglanz-Pop-Forró aufgeblasen, das Akkordeon bleibt jedoch zentral und unverzichtbar, was auch den bombastischsten Forró noch irgendwie zu erden vermag. Ansonsten: E-Gitarrengeschmiere, Glitter und klimpernde Wimpern, Bläser und Elektronik. Der Gangaçeiro-Mythos wird jedoch stets mit Forró verbunden bleiben und Corto Maltese erweist sich für einmal als topaktuell.

#-#SMALL#-#Buchliste:

Hugo Pratt: Aspettando Corto (Alfieri Editore / Editori del Grifo)

Hugo Pratt: Corto Maltese / Im Zeichen des Steinbocks (dt. Im Carlsen Verlag, vergriffen)

Billy Jaynes Chandler: The Bandit King / Lampião of Brazil (englisch bei Texas A&M University Press

Corto Maltese (Magazin, italienisch und vergriffen). Etwa 20 Ausgaben käuflich. Infos: keller[at]wohrt.ch#-#SMALL#-#

 

 

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