6. Oktober 2013

«Prisoners» – Interview mit Melissa Leo

«Ich brauche kein Lob»

Melissa Leo war am Zurich Film Festival 2013 gleich zweimal vertreten: als Jurymitglied und auf der Leinwand in «Prisoners» an der Seite von Hugh Jackman. Ein Gespräch mit der Oscar-Preisträgerin über gute und schlechte Regisseure, über die Kunst des Darstellens und über die Schwierigkeit, die Filme anderer beurteilen zu müssen.

Interview: Rudolf Amstutz
Werden verfolgt und verdächtigt: Melissa Leo (links) und Paul Dano als Holly und Alex Jones in «Prisoners» von Denis Villeneuve. Foto: © Ascot Elite

Sie haben in den letzten Jahren mit der Verkörperung von starken, selbstbewussten weiblichen Charakteren auf sich aufmerksam gemacht – in «Frozen River», als Toni Bernette in der HBO-Serie «Treme» oder in «The Fighter», für den Sie für Ihre Darstellung mit einem Oscar geehrt wurden. Suchen Sie sich diese Art von Rollen bewusst aus?

Nein, eigentlich nicht. Ich gehe immer davon aus, dass ich im Stande bin jede Art von Charakter zu spielen, der mir angeboten wird. Ich habe jetzt gerade einen «Emmy» gewonnen für eine Gastrolle in der Comedy-Serie «Louie» von Louis C.K. Und diese Auszeichnung macht mich so glücklich und stolz, weil man mich zuvor wohl kaum je im komischen Fach hätte vorstellen können. Eigentlich suche ich mir die Rollen nicht aus, sondern die Rollen suchen mich. Aber es ist mir enorm wichtig, dass die Figuren, die ich verkörpere geerdet sind, dass sie in irgendeinerweise mit der Wirklichkeit zu tun haben. Ich muss ihre Motivation nachvollziehen können, und dies unabhängig davon, ob ich mit ihnen einer Meinung bin oder nicht. Im Falle von Toni Bernette in «Treme»: Ich habe sie nun schon so lange verkörpert, dass ich mich ihr sehr nahe fühle. Sie ist eine Freundin geworden.

Gibt es auch Momente, wenn Sie sich den fertigen Film anschauen, in denen Sie in Ihrer Darstellung Dinge entdecken, die Ihnen so nicht bewusst waren? So als hätte sich die Rolle für einen Augenblick verselbständigt?

Ich weiss genau, was Sie meinen. Aber nein. Als ausgebildete Schauspielerin spiele ich ja nicht aus dem Bauch heraus eine Figur. Da steckt ein Entwicklungsprozess dahinter. Natürlich entdeckt man bei jedem Drehtag etwas Neues an der eigenen Rolle, aber auch dies ist ein Teil eines bewussten Vorgangs.

#-#IMG2#-#In «Prisoners» spielen Sie Holly Jones, die Tante jenes Mannes, der verdächtigt wird, zwei kleine Mädchen entführt zu haben. Diese Frau scheint von einschneidenden Erlebnissen in der Vergangenheit gezeichnet. Wie alle Charaktere im Film lebt auch sie von ihrer Tiefgründigkeit, dem Unausgesprochenen, das permanent in der Luft hängt. Damit hat die Figur auch viel Unerklärbares an sich.

Das stimmt. Und es braucht eine gewisse Zeit, um bei einer solchen Rolle die Füsse auf den Boden zu kriegen. Man geht da sehr pragmatisch vor: am Anfang ist das Skript und darin findet man die Koordinaten seines Charakters. Und dann kommen die Design- und Kostümabteilungen hinzu, die sich ja auch Gedanken über die Figur gemacht haben. Was zieht sie sich an? wie lebt sie? All diese Dinge sind enorm wichtig. Im Falle von «Prisoners» hatte ich zudem intensive Gespräche mit Regisseur Denis Villeneuve, was eher ungewöhnlich ist. Normalerweise kriegt man die Rolle und entwickelt den grossen Teil in Eigenregie. Hier war das anders und ich habe das sehr geschätzt. All die Erkenntnisse, die man so zusammenträgt, bilden dann in der Summe den Schlüssel, der einem den Zugang zur Figur ermöglicht.

Sie erwähnen die besondere Zusammenarbeit mit Denis Villeneuve, einem relativ jungen kanadischen Regisseur, mit dem Sie zuvor noch nie zusammengrabeitet hatten.

Als man mir die Rolle angeboten hat, war ich mir alles andere als sicher. Man schlug mir aber vor, dass ich doch zumindest mal Denis treffen solle, bevor ich mich entscheide. Ich dachte mir: Geh mal hin – einen neuen Regisseur kennenzulernen, hat noch nie geschadet (lacht). Als wir uns dann in New York zum Lunch trafen, wusste ich bereits nach fünf Minuten, dass ich unbedingt mit ihm arbeiten will. Seine Sensibilität gegenüber Schauspielern ist unglaublich. Er wusste, dass im Falle von «Prisoners» menschliche Abgründe auf uns Darsteller warten würden und er versprach mir, dass er auf diesem Weg nie von meiner Seite weichen würde. Nun hatte ich schon oft solche Versprechungen gehört, aber Denis hat sie im Gegensatz zu anderen nicht gebrochen. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes ein «Director». Wie oft habe ich folgenden Satz schon hören müssen: «Du weisst ja was du spielen musst, also mach mal.» Solche Freiheiten sind für Schauspieler nichts weiter als ein nebulöses Gelände, auf dem man ihn alleine lässt. Schauspieler wollen, dass man ihnen sagt, was sie zu tun haben. Ich sehne mich überhaupt nicht nach Lob, aber ich verlange Antworten anstelle von «Mach mal.»

Sie promoten «Prisoners» hier in Zürich. Also können Sie ja nicht anders, als die Arbeit zu loben.

Ja, ich weiss, dass dies alles nach Werbung klingt und dass man solche Lobgesänge zur Genüge hört, wenn neue Filme beworben werden. Ich kann als seriöse Schauspielerin nur noch einmal unterstreichen, dass es in meiner ganzen Karriere nur wenige Regisseure gegeben hat, mit denen man so intensiv und konstruktiv hat arbeiten können wie mit Denis. Ähnlich erging es mir mit dem Film «21 Grams» und Regisseur Alejandro González Iñárritu. Seine einzigartige Sicht auf die USA als Mexikaner erinnert mich an jene von Denis, der als Kanadier auch von aussen auf uns blickt. Und diese Distanz ist für uns Schauspieler extrem bereichernd.

Wie wichtig für Ihre Karriere ist die Tatsache, dass Sie  in der Lower East Side von Manhattan aufgewachsen sind?

(lacht) Ich denke, es hat mir geholfen, durchzuhalten auf meinem Weg. Ich habe es geliebt und geschätzt, dass ich im Herzen von New York grossgeworden bin. Gerade in den 1960er Jahren war so viel los und meine Familie war mit unglaublich interessanten Menschen befreundet. Diese Zeit war schon ausschlaggebend und hat mich sehr beeinflusst. Und ich bin wirklich tief im Herzen ein City Girl, obwohl meine Mutter dann später mit mir nach Vermont gezogen ist. Also ein Teil von mir ist auch Country Girl (lacht). Und beide Seiten waren in meiner Arbeit schon äusserst hilfreich.

Sie waren nun für zehn Tage Mitglied der Jury am diesjährigen Zurich Film Festival. Wie ungewöhnlich ist es, sich als Schauspielerin die Filme anderer anzusehen?

Jurymitglied zu sein ist für mich schon deshalb schwierig, weil ich weiss, wieviel Arbeit hinter all diesen Produktionen steckt. Ich beurteile Filme nicht nach meinem persönlichen Geschmack, sondern nach den sichtbaren Qualitäten eines Films. Erkennt man die Absicht des Regisseurs? Und wie stark und wie gekonnt gelang es ihm diese umsetzen? Ich versuche bei der Beurteilung meine Person rauszuhalten, weil es ein furchtbares Gefühl ist, über andere urteilen zu müssen.

Haben Sie sich die Filme im Kino angesehen?

Die Festivalleitung hat darauf bestanden, dass wir uns die Beiträge in öffentlichen Vorführungen ansehen und dies habe ich hier in Zürich geschätzt und genossen. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man einen Film mit Publikum erleben darf oder ihn sich alleine im Hotelzimmer auf DVD anschauen muss.


Das Interview mit Melissa Leo fand im Rahmen des 9. Zurich Film Festivals statt.

Zurich Film Festival: weitere Beiträge »

#-#IMG3#-#
#-#SMALL#-#Prisoners: USA 2013. Regie: Denis Villeneuve. Drehbuch: Aaron Guzikowski. Kamera: Roger A. Deakins. Musik: Johann Johannsson. Mit: Hugh Jackman (Keller Dover), Jake Gyllenhaal (Detective Loki), Viola Davis (Nancy Birch), Maria Bello (Grace Dover), Terrence Howard (Franklin Birch), Melissa Leo (Holly Jones), Paul Dano (Alex Jones).

«Prisoners» – Trailer »

#-#SMALL#-#

» empfehlen:
das projekt hilfe/kontakt werbung datenschutz/agb impressum