30. April 2010

Hervé Baruléa dit Baru: «Grand Prix» für sein Lebenswerk am Comicfestival in Angoulême 2010

Ein grosser Meister bewegender Soziogramme

Der französische Comicschöpfer Baru wurde am diesjährigen «Festival International de la Bande Dessinée» in Angoulême, dem grössten Comicfestival Europas, das jeweils am letzten Januarwochenende stattfindet, für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Mit dem «Grand Prix», der höchsten Festivalauszeichnung an einen Zeichner, wird Baru im nächsten Jahr nicht nur Präsident des Festivals, sondern auch mit einer grossen Ausstellung gewürdigt. Kaum ein anderer Comiczeichner hat das so sehr verdient, wie der 62-jährige Lothringer.

Von Hans Keller
Panels aus Pauvres Z'héros (dt. Elende Helden) von Baru/Pierre Pelot. Foto: © Casterman

(Dieser Beitrag erschien erstmals in: TheTitle Nr. 31 / 30.4.2010)

Grob und rücksichtslos, brutal elend und gleichzeitig optisch hochattraktiv ist sie aufbereitetet, die Comicepisode um einen vermissten Waisenknaben. Mit virtuoser Feder hält Baru in seinem aktuellen Band Elende Helden die düstere Stimmung in einem heruntergekommenen nordfranzösischen Kaff fest und setzt gleich zu Beginn eine abgewrackte, fluchende Alkoholikerin mit rotem Zinken und zerknittertem Gesicht in Szene. Der Fusel stinkt förmlich aus der Seite, wenn die Alte ihren faulenzenden Sohn anmotzt. Dieser macht sich gelegentlich auf, Dutzende von Katzen in der Küche einer Bekannten zu füttern, was Baru wiederum so eindrücklich zu Papier bringt, dass dem Leser der bestialische Geruch aus den Panels in die Nase zu steigen scheint. Atemberaubende Perspektivenwechsel, Sicht von unten, von oben und im Profil bei manchmal fast kinderbuchartiger Kolorierung: Bildinszenierungen eines grossen Meisters.

Autodidakt

Als Comiczeichner hat Baru einen ungewöhnlichen Werdegang hinter sich. Sohn einer Bretonin und eines italienischen Einwanderers, wurde Hervé Baruléa 1947 in Lothringen geboren und liess sich nach der Grundschule zum Sportlehrer ausbilden, einem Beruf, den er noch bis in die 1980er-Jahre hinein ausübte. Das Comiczeichnen brachte sich Baru autodidaktisch bei und er erreichte darin grössere Meisterschaft als so mancher geschulte Profi. Barus erste Arbeiten erschienen im französischen Comicmagazin Pilote, das erste Album Quéquette Blues / Teil 1 im Jahr 1984. Die Thematik kreiste bei Baru von Anfang an um Probleme der Einwanderer in Frankreich, um Gewalt und Rassismus. Von entscheidender Wichtigkeit für Baru und sein Werk war das jährlich stattfindende Comic-Festival in Angoulême, und zwar vor allem dasjenige von 1991. Zu jener Zeit machten sich japanische Manga-Verlage auf die Suche nach europäischen Comicschöpfern, um sie zur Inspiration für ihre eigenen Manga-Zeichner nach Japan zu holen. Der Verlag Kodansha gelangte auch an Baru und man lud ihn ein, mit einer Fortsetzungsgeschichte am Manga-Magazin Morning mitzuwirken. Entstanden ist dabei Autoroute du Soleil, ein Meilenstein der Comicgeschichte. Baru arbeitete dabei sein Road-Drama Cours Camarade! (1988) zu einem in Buchform schliesslich 430 Seiten umfassenden Monsterwerk um.

Der Lothringer Arbeitersohn servierte den japanischen Manga-Schnellfutterkonsumenten mit Autoroute du Soleil Rassismus à la française. Von Norden nach Süden werden Karim Kemal, ein Franzose nordafrikanischer Abstammung, und sein Freund Alexandre Barbiéri von Schlägern verfolgt, weil der fesche Frauenheld Karim es regelmässig mit der Gattin des rechtsextremen Docteur Faurissier getrieben hat und dabei in flagranti ertappt wurde. Die Hatz durch Frankreich, seine Kleinstädte, über Landstrassen und nächtliche Parkplätze liegt einem als dickes Buch in der Hand und vermag schon beim taschenkinoartigen Durchblättern den Drive eines Animationsfilms zu suggerieren.

Die mangakompatible Strukturierung der Szenen dürfte Baru nicht schwer gefallen sein, hat er doch schon in früheren Büchern wie zum Beispiel dem Boxerdrama Der Champion eine ausgesprochen actionbetonte Bildsprache gepflegt. Die Art und Weise, wie Baru seine Figuren zeichnerisch stilisiert, verrät überdies einen zwar längst europäisierten, aber immer noch spürbaren Rest jener ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Erfrischung, welche sich westliche Künstler aus der linearen Leichtigkeit japanischer Kunst angeeignet hatten. Baru spielte sozusagen Japan den Ball zurück. Es gelte, so der Zeichner zur Entstehungszeit von Autoroute du Soleil, zwischen Manga und westlichen Comics eine dritte Strasse zu finden, zwischen der Bildaction des ersteren und der Textlastigkeit des letzteren. Ein gutes Stück dieser dritten Strasse führt buchstäblich durch Autoroute du Soleil.

Dynamische Konturzeichnung, Lasuren für schummerige Treppenhäuser, vorbeiziehende Zentralmassivlandschaften, Autobahnen, Bahnhöfe, Sozialbauten und dazwischen immer wieder die verzerrten Visagen der Verfolgten und Verfolger: Baru gelang eine neuartige Synthese aus optischem Manga-Drive und europäischen respektive französischen Inhalten. In Japan reagieren die Leser stets eifrig mit Leserbriefen auf Manga. So auch auf Autoroute du Soleil. Baru wusste schliesslich sehr genau, was die Japaner verstanden hatten und was nicht. Baru: «Fremd ist ihnen angeblich der Rassismus. Japaner glauben, dass es weder diesen noch gesellschaftliche Klassen gibt in ihrem Land. Die wirklichen Zustände werden dabei gerne verdrängt».

Der dritte Comic-Weg, den neben Baru auch etliche andere Westler beschritten, hat sich mittlerweile im Sand verlaufen. Auch Baru kam schliesslich von der «Autoroute» ab und betrieb mit dem daran anschliessenden Werk Le Penalty eine Art «Recherche du Temps perdu» indem er thematisch nach Lothringen zurückkehrte. Mit Le Penalty begann der Zeichner unter dem Motto Les Années Spoutnik eine vierteilige Chronik. Man schreibt das Jahr 1957. Baru war 1957 zehn Jahre alt und wuchs in einem Nest an der französisch-luxemburgischen Grenze auf. Massives Fussballfieber hatte damals nach der WM 1954 in der Schweiz begonnen um sich zu greifen. Man wetzte in jeder Schulpause hinter dem Ball her, trug Konflikte per Fusstritt aus und träumte von Mittelstürmerkarrieren.

Baru gelang es im ersten Band Le Penalty, dessen Geschichte er in einem fiktiven lothringischen Dorf spielen lässt, mit leichter Hand sowohl juvenile Fights darzustellen als auch die Stimmung der Zeit einzufangen. Die Geschichte ist unkompliziert: die Kids von «par-en-haut» (Oberstädter) und die von «par-en-bas» nehmen jede Gelegenheit wahr, sich zu verhauen. Gestreckte Beine, Bälle und deren Schusslinien wirken oft so, als wolle Baru mittels akademisch-geometrischer Bezugslinien den Aufbau eines Bildes erklären.

Baru wendet bis heute die Manga-Erfahrungen auf seine Stories an, die nun meist im heimatlichen Nordfrankreich angesiedelt sind. So eben auch die Comic-Adaption des Romans Elende Helden von Pierre Pelot. Jeder der «Helden» und auch die «Heldinnen», die in einem trüben Dorf agieren, haben Dreck am Stecken, vom dem andere in ihrer Umgebung wissen. Der verschwundene Waisenknabe aus einer berüchtigten Anstalt löst nicht nur eine Suchaktion aus, sondern fördert auch Animositäten und massive Aggressionen unter den Bewohnern zu Tage, die ein hellhöriger Journalist registriert. Abgründe tun sich auf und es folgt ein grässlicher Showdown, die Ereignisse scheinen die Einschätzung Woody Allens zu zementieren, dass die schrecklichsten Dinge und Verbrechen auf dem Land geschähen. Und Baru wird uns sicherlich auch in Zukunft das Schreckliche hochästhetisch nahe bringen.

 

#-#SMALL#-#Derzeit sind mit Autoroute du Soleil (Carlsen) sein bekanntestes und mit Elende Helden (zusammen mit dem Autor Pierre Pelote, Edition 52) sein neustes Werk auf Deutsch erhältlich:

Autoroute du Soleil (Carlsen)

Taschenbuch. 432 Seiten. Deutsch von David Basler. März 2007

€ 19,90 / CHF 35,90

Leseprobe »

Elende Helden (Edition 52)

Kartoniert/broschiert. 79 Seiten. Deutsch von Uwe Löhmann. November 2009

€ 18 / CHF 31,50

Leseprobe (pdf) »

Die französischsprachigen Ausgaben sind bei Casterman erschienen.#-#SMALL#-#

 

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